Documenta writings is a series of texts written by students of the institute for art in context at the UdK Berlin. All texts are based on individual experiences during an excursion to Kassel in June. The writings were developed in the context of the „critical writing“ seminar led by Julia Grosse and Jörg Heiser.

Fotografie: Nina Berfelde.

Kassel ist keine schöne Stadt. Kassel hat trotz der 7000 Eichen wenig Schatten zu bieten, Kassel kocht in der Junihitze, die größte Herdplatte ist das Dach eines irrwitzigen Parkhauses, getarnt als vertrocknete Wiese vor dem Fridericianum. Die beiden Beuys Eichen stehen hier verloren in der gnadenlosen Sonne und können dem aufgepeitschten Klima keine Abkühlung entgegensetzen. Eine Frau im roten Gewand tänzelt durch den staubigen Kies, arrangiert Wasser in Plastiktüten und predigt Selbstheilung statt Impfung. Alles eine Frage der Einstellung, wenn wir nur unsere Ängste kontrollierten, dann gäbe es keine Probleme auf der Welt.

Erzähle das mal Femi, Muhamed und Ali, denke ich. Auf der anderen Flussseite, im Teil von Kassel, der durch Schrottplätze, Industriebrachen und noch weniger Grün geprägt ist, hat der Künstler Khalid Albaih eine Soundinstallation in eine Unterführung integriert. So organisch, dass der Eindruck erweckt wird, die Kakophonie der Stimmen Geflüchteter käme direkt aus den Partikeln der Sprühfarbe. Bei näherem Hinhören, entdeckt auch der Sehsinn, dass hinter großflächigemGraffiti Holzkästen an den Wänden hängen. Boxen, aus denen die Stimmen von Menschen knarzen. Menschen, die in Dänemark gelandet sind, wo sie nach langer Flucht aus Syrien, dem Iran oder Nigeria nun feststellen müssen, dass sie nicht willkommen sind. Ihre Namen sind mit Edding neben die Holzboxen gekritzelt, wie Tags auf Klowänden oder U-Bahn Türen.

Dies alles wirkt lapidar und monumental zugleich – Passant*innen hören zu, hin oder vorbei – Fahrräder und Skateboards rauschen unter dem Platz der Deutschen Einheit zur gegenüberliegenden Straßenseite, tauchen auf in die gleißende Sonne. Khalid Albaih’s Unterwelt „Walls have ears“ gleicht einem ausgetrockneten Styx, in dem Femi, Muhamed und Ali gefangen sind – sie werden verhüllt und Teil dieser Welt mit Hilfe der Kasseler Graffiti Künstler, sie kleben fest an den Wänden, nicht einmal ihre Stimmen vermögen es, auf die andere Seite oder gar wieder hinaus zu kommen. Die Installation manifestiert den Limbus, in dem sich Geflüchtete befinden und aus dem es ihnen selten gestattet wird, herauszukommen, sobald sie in Europa sind. Das Lager, in dem sie landen, was wir Europäer so unter Asyl verstehen.

Fotografie: Nina Berfelde.

Khalid Albaih ist Teil des Kollektivs „Trampoline House“ – 2010 in Kopenhagen gegründet, um Asylsuchenden Unterstützung bei juristischen, sozialen und vielen weiteren Fragen anzubieten. Wegen fehlender Finanzierung musste das Trampolin Haus im Dezember 2020 seine Arbeit einstellen, operiert jedoch inzwischen wieder als wöchentliches Angebot in einer Kopenhagener Kirche. Das sozialdemokratisch regierte Dänemark glänzt mit einer Asylpolitik, die sich die Regierung Boris Johnson als Vorbild zu eigen gemacht hat, kein gutes Zeichen. Asylsuchende sollen deportiert werden, mit Ruanda wird „vertraulich“ zusammengearbeitet, um Asylprüfungen nicht mehr auf dänischem Boden vornehmen zu müssen, sondern quasi vor Ort Anträge abzulehnen, mit dem Argument, so würden weniger Menschen im Mittelmeer ertrinken. Abschiebehäftlinge, die es doch nach Dänemark geschafft haben, sollen in ein Gefängnis im Kosovo deportiert werden und durch Strafarbeit die Kosten für ihre Abschiebung und Haft selbst tragen. Nichts davon ist auch nur ansatzweise in Einklang mit Europäischem oder internationalem Recht zu bringen, doch die entsprechenden Institutionen schweigen auffällig laut.

Fotografie: Nina Berfelde.

Khalid Albaih hat Menschen, die von der dänischen Asylpolitik betroffen sind, interviewt. Muhamed berichtet, dass er auf die gleichen mentalen Hilfsmittel zurückgreifen musste, mit denen er ein Gefängnis in Syrien überlebt hat, als er von einem dänischen Arzt untersucht wurde. Er beschreibt eine „investigation scenography“, sein Trauma wurde nicht nur nicht ernst genommen, sondern bewusst getriggert. Menschen, die aus Kriegsgebieten kommen, werden unter enormen Druck gesetzt, um zu beweisen, dass sie „fit genug“ für Asyl sind. Und wenn sie Papiere erhalten, müssen sie permanent beweisen, dass sie diese verdienen. „Walls have ears“ erzählt auch von Femi, ursprünglich aus Nigeria in die Ukraine geflüchtet und nun in Kopenhagen nach einer erneuten Flucht, diesmal innerhalb Europas. Vor der Flucht liegt meist ein Krieg. Gewalt gegen Menschen, Ökosysteme, Gier nach Expansion – all diese anachronistischen, wahnsinnig ermüdenden Konflikte, mit denen die wohlhabenden Volkswirtschaften ihre Vermögenden weiter bereichern.

Kassel ist auch deshalb keine schöne Stadt im Sinne eines Reiseführers durch romantische mittelalterliche Ortschaften, weil Kassel stark zerbombt wurde im Zweiten Weltkrieg. Baunatal liegt in der Nähe, nachts kann man den Volkswagen Schriftzug auf dem Fabrikdach bis nach Kassel leuchten sehen. Kraft durch Freude hieß das Modell, das ab 1938 als Marketinginstrument Millionen Deutschen ein Auto versprach, doch in der Fabrik, die Hauptgeschäftsführer Ferdinand Porsche im damals winzigen Fallersleben, das heute Wolfsburg heißt, begründete, stellten mehr als 20.000 Zwangsarbeiter militärische Kübelwagen her. Bomben richten sich oft gegen Produktionsstandorte der Rüstungsindustrie. Kassel war Produktionsstätte für den Konzern Rheinmetall – ist es heute noch. Der Kasseler Standort wächst und wird ausgebaut – so wie Rheinmetalls Produktionsumfang und Gewinne. Rheinmetalls Nettogewinn schnellte 2021 von 1 auf 332 Millionen Euro. In Kassel sind knapp 2000 der weltweit 24.000 Rheinmetall Beschäftigten tätig. Im Zuge der kürzlich bewilligten 100 Mrd. € für die Bundeswehr gingen auch in Kassel Aufträge bei Rheinmetall ein. Unter anderem für Munition und Zulieferteile für ein neues Panzermodell, „KF51 Panther“ genannt.

Fotografie: Nina Berfelde.

Hier schließt sich ein Kreis: vor Kriegen Geflüchtete erzählen dank Trampoline House und Khalid Albaih ihre Geschichten im Kasseler Stadtraum. Kriege, an denen deutsche Konzerne direkt und die deutsche Bevölkerung indirekt beteiligt sind. Kriege, die Anachronismen perpetuieren und über die unzähligen Friedenskämpfer*innen seit 1945 graue Haare gewachsen sind. Kriege, die nicht von der Einstellung der lokalen Bevölkerung allein manifestiert werden, sondern in meist historisch gewachsenen sogenannten Krisenregionenstattfinden, die nicht selten im Kontext Europäischer Expansions-und Kolonialpolitik stehen. Kriege, an die wir uns alle so gewöhnt haben, dass sie zur medialen Dauerschleife werden, eine Konflikt-Kakophonie, die nun als Weißes Rauschen überhört werden muss. Der Kreis schließt sich auch, wenn das neueste Panzermodell, das Deutschland stolz exportiert, Panther heißt. Von 1943 bis 1945 waren rund 6000 Panzerkampfwagen 5 „Panther“ an der Ost-und Westfront für die Wehrmacht im Einsatz. Die Wände haben Ohren, doch Hinhören statt Wegschauen – kann das wirklich nur die Kunst?

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