Hochsommer 2004, mein damals sehr uninteressiertes Selbst steht um acht Uhr morgens mit dröhnendem Kopf – an den Klamotten klebt noch die kaum vergangene Nacht – vor Monets Seerosen. Außer der unglaublichen Größe dieses Bildes blieb nicht viel von der Ausstellung in meinem Gedächtnis haften, vielleicht weil ich auch eher damit beschäftigt war einen Platz zu finden, an dem ich mich ungestört zusammenkauern konnte, anstatt der Werke des MoMAs gebührend Aufmerksamkeit zu schenken.
Während der Umbauarbeiten des MomAs in New York wurden damals 200 Werke der Sammlung in Berlin gezeigt. Ganz Deutschland wollte diese Blockbuster-Show sehen und so kampierten die Besucher*innen Stunden über Stunden vor dem Museum in Berlin, um die Kandinskys, Pollocks und Picassos zu bewundern. Selbstverständlich mussten auch Busse voller gelangweilter Teens in die Hauptstadt transportiert werden um diese „Jahrhundertausstellung“ zu erleben. So wurden auch wir mit zwei Klassen samt zwei motivierter Lehrer aus dem Vorharz nach Berlin verfrachtet. Am Tag unserer Ankunft verlief die Schlange an der Neuen Nationalgalerie bereits ums gesamte Haus herum, Menschen hockten auf Campingstühlen, und endete mit einem Schild: Heut nicht mehr anstellen. „Also bitte morgen früh um sechs am Museum.“ – so Herr Schaak, Mathelehrer.
Die ganze Hochsommernacht lang fuhr ich, zusammen mit den drei anderen Jungs, durch die Hauptstadt und wir tranken Becks Bier. Tobi hielt sich grinsend und mit knallroten Augen an den gelben Stangen der ratternden U-Bahn fest und wir wollten ganz sicher nicht mehr zurück in die Kleinstadt. Um halb acht Uhr morgens dann knallt mir die Sonne ins Gesicht, verpennt, fuck it, das MoMA klaut uns nicht die Jugend. Zwei Stunden Verspätung, direkt an der Schlange vorbei in die Ausstellung, den strafenden Augen derer ausgesetzt, die sich brav um 06:00 in die Schlange stellten, nahm uns Herr Schaak zur Seite. Scharfer Blick über die Brille und im allerbesten aus-euch-wird-nie-was-Ton gab er uns die Schuld, dass es für beide Klassen keine Abschlussfahrt geben werde. Er wusste einfach wie Fairness funktioniert und hielt sein Wort.
Heute ist es bereits späterer Herbst in Berlin auf dem Fußweg vom Potsdamer Platz zur Neuen Nationalgalerie.Vorbei am geschlossenen Kiosk der wie eine vergessene Filmkulisse wirkt auf dieser ewig langen, leeren Straße. Im Hintergrund das Kulturforum, die Philharmonie, die Staatsbibliothek und kurz vor der Potsdamer Brücke dann die soeben renovierte Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe. Fast wieder zu spät, mein Zeitfensterticket gewährt nur 15min Einlass.
Große Stellwände verkleinern die vielbeschworene Offenheit der riesigen Haupthalle. Schlecht vorbereitet hab ich keinen Schimmer was hinter den Wänden gezeigt wird, hauptsächlich bin ich hier um mir Rosa Barbas „In a Perpetual Now“ anzusehen und folge dem Leitsystem die Treppe hinunter. Ein grauer Teppich, umsäumt von einigen Barcelona Chairs, laden in geschmackvoller Museums Bürgerlichkeit, zum Verweilen ein. Ich warte lieber stehend auf meine Begleitung, Jakob, einer der Jungs von 2004, und versuche den Speicher meines veralteten iPhones für ein paar Ausstellungsfotos frei zu machen. Ein Finger tippt eindringlich auf meine Schulter. Vertieft in Urlaubsfotos des vergangenen Sommers, drehe ich mich langsam um, und blicke in das zornerfüllte Gesicht einer Frau mit Kopfhörer. Die Augen weit aufgerissenen und ohne ein Wort zu sagen wedelt sie mit ihrer Hand vor meinem Gesicht, als sei ich ein ekliges Insekt das sie verscheuchen zu versucht. Ich versperre ihr und ihrem Audioguide die Sicht auf den „Abend über Potsdam“ von Lotte Laserstein.
Jakob und ich betreten den abgedunkelten Raum der grafischen Sammlung, in welchem Rosa Barbas Installation gezeigt wird. Rechtwinklig geschweißte Stahlrahmen, die teilweise bis zur Decke ragen, bestimmen die gesamte Installation. Auf allen Ebenen der Stahlgerüste stehen 16mm Filmprojektoren, manche wirken wie eine veraltete Vorstellung von Robotern aus einem Low-Budget Science-Fiction-Film, andere sind introvertierte, kinetische Skulpturen die nur ihren ganz eigenen Zweck verfolgen. Zwischen der Kakophonie der Maschinen werden zwei Filme abwechselnd und an gegenüberliegenden Positionen im Raum projiziert.
Der Gang von einer zur anderen Leinwand wird geführt von einem Schlagzeug-Solo. Dazwischen gehen die Apparate ihrer Arbeit nach, leuchten durch ihre Linsen auf farbige Glasplatten oder einfach auf die weiße Museumswand, schalten sich ein und wieder aus und man wartet auf den Moment, in dem diese fragile Fabrik aus Filmrollen und ratternden Blechkisten aus dem Rhythmus gerät und alles zum Stillstand kommt. Alles ist verbaut zu einem einzigen Tongerüst.
Auf einer der Leinwände zeigen wackelige Aufnahmen Bilder der fast menschenleeren Baustelle während der Sanierungsarbeiten des Museums. Spiegelungen von Sonne und Wolken in der Glasfassade, Baukräne im Gegenlicht, ein Zelt inmitten der menschenleere Baustelle: Der Fußboden bis auf die Bausubstanz entkernt, wirkt die Haupthalle wie eine Inszenierte Planetenlandschaft. Links und rechts des Bildes leuchten Textfetzen mit theoretischen Verweisen auf. Nicht jedes zeitgenössische Kunstwerk braucht ein Quote von Donna Haraway.
Ich versuche mir auszumalen wie dieses Gebäude von Mies van der Rohe wohl an seinem eigentlichem Bestimmungsort in Havanna auf Kuba, als Zentrale für die Firma Bacardi ausgesehen hätte. Das weit ausladende Dach war ursprünglich wegen der stetigen Sonneneinstrahlung konzipiert und sollte den Menschen, die in diesem Glaskasten an ihren Schreibtischen hätten arbeiten müssen, etwas Schatten gespendet. Ein Entwurf aus Mies’s Restekiste und im Jahr 1968 sein letzter, realisierter Bau vor seinem Tod im Jahr 1969. Zwischen den benachbarten Bauten des Kulturforums, der Philharmonie und der Staatsbibliothek fügt sich die neue Nationalgalerie perfekt in die Rolle eines Fremdkörpers. Die Umgebene Stadt wurde anscheinend bei keinem der Gebäude in die baulichen Planungen einbezogen und so wirken sie etwas fehl am Platz, ganz wie der einsame Kiosk am Straßenrand.
Neben Rosa Barbas Filmfabrik wird die „Die Kunst der Gesellschaft 1900-1945“ gezeigt. Von den frisch gestrichenen Wänden schauen mich einige bekannte Gesichter an: Woher kennen wir uns? L‘Élue du mal, Sonja, die Weddinger Jungen, ein paar der Auserwählten um das kulturelle Narrativ eines Landes (bzw. die Meisterschaft europäischer Kunst) zu erzählen und deren Einfluss ich mich anscheinend, trotz des jugendlichem Desinteresse an Museumsgängen, nicht entziehen konnte. Ach, und man hat auch hier bemerkt, dass sogar ein paar Frauen wie Lotte Laserstein und Hilma af Klint im 20sten Jahrhundert zur Kunst der Gesellschaft beitrugen. Ein halbes Jahrhundert im ökonomischem Prozess der kulturellen und geschmacklichen Erziehung, eine Dauervermittlung. Schulaufsätze und Bildbeschreibungen, Klassenexkursionen, Kunsttheorie und Forschung, Franz Marcs Pferde auf den Postkarten im Museumsshop, ein Feininger als Kunstdruck im Wohnzimmer meiner Mutter (Note: neues Bild für Mutti zu Weihnachten.) – ich frage mich, wie sich der Abdruck eines institutionell geformten Kanons neu umreißen, oder gar abschaffen oder zumindest öffnen und erweitern lässt? Ein Museum ist nunmal kein neutraler Raum an dem man demokratische Entscheidungen trifft und so bleibt die Frage: wessen Geschichte der Moderne und welcher Gesellschaft wird hier nochmal nach- und weitererzählt? Das frisch sanierte Gebäude, die neu gehängten Gemälde, die Barcelona Chairs im Foyer sagen mir, ruhig und doch bestimmt: „Hey, ist doch alles in Ordnung“. Auch wenn es vor den Toren der Moderne mal kracht, hier vergeht die stetig konservierte Zeit nahezu im Vakuum, bei Bedarf wird sie einfach zurückgedreht, restauriert. („Perpetual“ bekommt hier eine doppelte Bedeutung) „Und Hauptsache die Skaten nicht mehr vor der Tür, wa?“
So bleibt eine Ambivalenz zwischen mir und diesem Museum. Früher bleibt vielleicht doch alles besser!? Vielleicht hatte Thomas Bernhard recht, als er sagte, dass die Kunstmachenden sich dem Volk dauernd nur aufdrängen. Die Gebäude und dessen Erbauer und Meister*innen und ihre Meisterwerke, ein Aufdrängen das nur diejenigen interessiert, die sich Künstler*innen nennen oder (laut Bernhard am allerschlimmsten) Intellektuelle? Das geht aber zu weit.
Auf dem Weg nach draußen durch die Haupthalle, auf der anderen Seite der Stellwände entlang. Hinter der Glasfassade ist die Stadt längst im frühen Dunkel des späten Nachmittags verschwunden, die Ausstellungswächter tragen Daunenjacken, es ist kühl. Schwer zu heizen solch ein gigantischer Glaskasten. Von der weit entfernten Decke hängen die Mobiles von Alexander Calder, werfen Schatten auf die riesigen Trennwände, es sind Tische aufgebaut an denen man in der Kälte Schach spielen kann, auf Repliken der von Calders gestalteten Spielbretter. Obwohl diese Halle, dieses oft gelobte Meisterwerk der Moderne, das Bild dieses Museums in der gesellschaftlichen Erinnerung festschrieb, wirkt sie, wenn man in ihr umhergeht, als hätte sie nur eine sekundäre Rolle, als wäre sie jetzt nunmal hier und irgendwie muss man was mit ihr anfangen. Und gerade weil die Haupthalle keine Funktion vorgibt (und vielleicht weil sie eigentlich einem Großraumbüro auf Kuba dienen sollte?) wirkt sie wie eine unfertige Durchgangshalle aus der wir schnellstmöglich wieder raus wollen – Schach spielen können Jakob und ich sowieso nicht.